Gedanken und Anmerkungen
zum Projekt „Stolpersteine“ in Wiener Neustadt
Werner sulzgruber
Vorentwicklungen
Im Jahre 2009 planten der soziale Verein „Aktion Mitmensch“ und die Plattform der Straßenzeitung „Eibisch-Zuckerl“ Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus in Wiener Neustadt zu setzen. Der Verein wollte diese in Gestalt von sogenannten „Stolpersteinen“ realisieren, wie sie vor allem in Deutschland seit Jahren in großer Zahl und auch in einzelnen österreichischen Städten verlegt werden.
Im Februar 2009 wurde ich daraufhin von mehreren Seiten gefragt, welche Meinung ich zu den sogenannten „Stolpersteinen“ habe und ob jene in Wiener Neustadt umgesetzt werden sollten. Um nicht fehlinterpretiert oder missverstanden zu werden, verfasste ich eine ausführliche Stellungnahme – unveröffentlichte Quelle: Sulzgruber, Werner: Zur Frage der „Stolpersteine“ in Wiener Neustadt. Wiener Neustadt 2009.
Kooperation mit dem Arbeitskreis „Stolpersteine für Wiener Neustadt“
Im Dezember 2009 wurde ich zu einer Versammlung des Arbeitskreises „Stolpersteine für Wiener Neustadt“ eingeladen, in der es um die Planung des Projekts „Stolpersteine“ in Wiener Neustadt ging. Ich erhielt dort die Möglichkeit, meine Position, Bedenken und Optionen der Umsetzung aus meiner Sicht darzustellen.
Außerdem stellte ich die Idee einer Variante von Gedenkplätzen vor: Hierbei sollte mit dem Medium Licht gearbeitet werden, indem im Boden eingelassene Spots die Passanten mithilfe eines säulenartigen Lichtstrahls auf besondere Platzierungen aufmerksam machen. Auf dünnen Edelstahlplatten (in Wandmontage auf Augenhöhe) sollte der Betrachter Informationen über einzelne oder mehrere Personen finden, denen gedacht wird. Diese Platten sollten indirekt beleuchtet werden.
Ich sicherte selbstverständlich meine beratende Unterstützung zu. In Folge beantwortete ich auch mehrere Anfragen (von Herrn Pastor Helmuth Eiwen, der Kontakt zu vielen jüdischen Zeitzeugen, Überlebenden und Familienangehörigen pflegt) im Zusammenhang mit jüdischen Bürgern (vor 1938), die von Mitgliedern des Arbeitskreises für das Projekt ausgewählt worden waren. In die weiteren Aktivitäten des Arbeitskreises „Stolpersteine für Wiener Neustadt“ war ich bis zum September nicht involviert.
Verlegung der ersten „Stolpersteine“
Am Samstag, dem 24. Juli 2010, kam es zur Verlegung der ersten 21 „Stolpersteine“ an insgesamt 11 Stellen in Wiener Neustadt. Gunter Demnig nahm,
unterstützt von Arbeitern der Stadtgemeinde, den Einbau vor. Mitglieder des Arbeitskreises „Stolpersteine für Wiener Neustadt“ und Gäste versammelten sich um 9.30 Uhr bei der ersten Verlegestelle am Hauptplatz 13. Verschiedene Persönlichkeiten, die sich um die Aufarbeitung der Geschichte und Erinnerungsarbeit bemühen, wie beispielsweise Prof. Karl Flanner, und Vertreter einzelner Institutionen, wie NR i.R. Hofrat Dr. Stippel (NÖ Bildungs- und Heimatwerk, IVM), Frau Maria Wöhrer (Geschäftsführerin des IVM) und Frau Mag. Sabine Schmitner (Mitarbeiterin des Stadtarchivs) waren gekommen. Als Vertreter der Stadt Wiener Neustadt waren Kulturstadträtin Mag.a Isabella Siedl und Kulturamtsleiter Prof. Franz Pinczolits anwesend.
Erfreulicherweise setzte der Arbeitskreis „Stolpersteine für Wiener Neustadt“ einzelne Punkte der Anliegen um, die ich im März 2009 schriftlich und im Dezember 2009 mündlich ausformuliert hatte und die meines Erachtens einer sinnvollen Erinnerungskultur in Wiener Neustadt förderlich sind: So wurde im Vorfeld die Zustimmung der Hauseigentümer eingeholt, nur eine erste begrenzte Anzahl von „Stolpersteinen“ verlegt und diese nicht unmittelbar im Eingangsbereich (an Türschwellen) gesetzt. Der Gruppe der im Juli 2010 Gedachten gehören Personen unterschiedlicher Opfergruppen an (Juden, Personen des politischen Widerstands und Opfer der NS-Euthanasie).
Leider waren zu den Verlegeakten weder Familienangehörige oder Nachkommen der Betroffenen noch Vertreter spezifischer Organisationen (wie zum Beispiel der Israelitischen Kultusgemeinde oder diverser Opferverbände) anwesend, obgleich der Akt der Verlegung ein zentraler Aspekt der „Stolpersteine“ überhaupt ist.
Für die noch lebenden Angehörigen stellen der Gedenkstein als Zeichen der Erinnerung und die öffentliche Anteilnahme an der Verlegung wichtige Symbole der Versöhnung dar.
11 Verlegestellen – 21 „Stolpersteine“:
Raugasse 4 | Dr. Leopold, Emma, Susanne, Ernst BAUER | (jüdische Bürger) |
Hauptplatz 13 | Gustav BRAUNBERG | (jüdischer Bürger) |
Dietrichgasse 23 | Maier, Regine, Robert HACKER | (jüdische Bürger) |
Herzog-Leopold-Str. 3 | Arnold, Bella LEMBERGER | (jüdische Bürger) |
Ledererg. 1/Langeg. 5 | Friedrich, Charlotte, Inge und Edith POLLAK | (jüdische Bürger) |
Herzog-Leopold-Str. 28 | Paul Johannes SCHLESINGER | (jüdischer Bürger) |
Brunner Straße 30 | Ignaz, Heinrich SECKL | (jüdische Bürger) |
Wiener Straße 51 | Alfred HÖCHSTÄTTER | (Widerstand) |
Hauptplatz 20 | Ludwig HUBER | (Widerstand) |
Mießlgasse 43 | Helga PAUER | (Euthanasie-Opfer) |
Grazer Straße 95 (Pognergasse 14) |
Juliane TAUL |
(Euthanasie-Opfer) |
Zum „Stolperstein“ von Paul Johannes Schlesinger ist anzumerken, dass er zu den rassisch Verfolgten gezählt werden müsste. Er wohnte bis 1934 in der Dietrichgasse 25 bzw. 27a (zeitlich früher in der Herzog-Leopold-Straße 30 – diese Adressennummer entspricht heute Nr. 28) und musste – nach einer Haft im „Anhaltelager“ Wöllersdorf – Wiener Neustadt verlassen. In der NS-Zeit wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung 1938/39 für mehrere Monate inhaftiert, 1944 neuerlich verhaftet und deportiert. Er kam am 10. Februar 1945 im KZ Groß-Rosen zu Tode
(oder verstarb an den Strapazen des „Evakuierungsmarsches“ im März/April 1945). Ihm ist in der Kammanngasse 5 eine Gedenktafel gesetzt.
Weitere Unterstützung des Arbeitskreises „Stolpersteine für Wiener Neustadt“
Ab September 2010 wurde der Arbeitskreis „Stolpersteine für Wiener Neustadt“ von mir laufend unterstützt, sei es mit der Beantwortung von Anfragen zur Opfergruppe der Juden, mit Informationen aus meinen Datenbanken oder mit Textbeiträgen für die Website des Arbeitskreises „Stolpersteine für Wiener Neustadt“.
Spendenaktion am BRG Gröhrmühlgasse
Im März/April 2011 wurde von mir eine Spendenaktion am Bundesrealgymnasium Gröhrmühlgasse initiiert, um finanzielle Mittel aufzustellen. Das Ergebnis der Spendenaktion übertraf alle Erwartungen, da eine Summe von 2.250,- Euro erreicht worden war. Der Elternverein und der Absolventenverband des BRG stockten in Folge die Summe um weitere 200,- Euro auf. Mit nachträglichen Spenden von Lehrern wurde eine Gesamtsumme von rund 2.480,- Euro und damit die Finanzierung von 26 „Stolpersteinen“ sichergestellt.
Die gesamte Spendensumme wurde an den Arbeitskreis „Stolpersteine für Wiener Neustadt“ übergeben und wird ausschließlich für die Finanzierung von „Stolpersteinen“ in Wiener Neustadt eingesetzt.
Das ursprüngliche Ziel bestand darin, für zwei jüdische Familien, die Opfer der Shoa sind und Bezug zum BRG Gröhrmühlgasse haben, neun Gedenksteine zu finanzieren:
- 5 Stolpersteine für Familie Müller:
Paul Müller, geboren am 29. April 1927 in Wiener Neustadt, besuchte die „Bundesrealschule“ (heute: BRG Gröhrmühlgasse). Die Familie musste 1938 die Stadt Wiener Neustadt verlassen. Alle vier Kinder der Familie Müller und auch Vater Lazar wurden Opfer der Shoa.
- 4 Steine für Familie Buxbaum:
In der Gröhrmühlgasse lebte vor 1938 nahe dem heutigen Schulstandort die jüdische Familie Buxbaum. Familienvater Julius verstarb 1942 in einem Ghetto in Polen. Margarete Buxbaum und ihre beiden Kinder wurden 1942 im Vernichtungslager Chelmno ermordet.
Mit den großzügigen Spenden können – nach den neun „
Stolpersteinen des BRG Gröhrmühlgasse“ – nun sogar weitere 17 „Stolpersteine“ gesetzt werden.
Ausstellung zu den „Stolpersteinen des BRG Gröhrmühlgasse“ im Stadtmuseum
Ergebnisse aus meinen Forschungen zu den „Stolpersteinen des BRG Gröhrmühlgasse“ und Bildmaterial aus der „Sammlung Sulzgruber“ wurden vom 27. April bis 29. Mai 2011 in Form einer kleinen Extra-Ausstellung im Erdgeschoß des Stadtmuseums Wiener Neustadt ausgestellt.
In der Ausstellung wurden alte Stadtansichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert gezeigt, mit denen die „städtische Lebenswelt“ um und nach 1900 sichtbar gemacht wurde: etwa „die Gröhr“ und die Gröhrmühlgasse, der Baumkirchnerring und heute nicht mehr bestehende Gebäude.
Es ließ sich das Schicksal der 1942 ermordeten Familien Buxbaum und Müller nachlesen, ergänzt mit einigen historischen Quellen und Anschauungsmaterial.
Beispiele für Elemente der Ausstellung:
- historische Ansichten von Wiener Neustadt um 1900 bzw. vor 1938 in Form von vergrößerten Fotografien und Ansichtskarten
- Biografien über die jüdischen Familien Müller (Baumkirchnerring 5) und Buxbaum (Gröhrmühlgasse 31)
- Auszüge aus Schulkatalogen des BRG Gröhrmühlgasse (zu Paul Müller) und der Volksschule am Baumkirchnerring (zu Kindern der Familie Buxbaum)
- Meldezettel der Familien aus dem Stadtarchiv Wiener Neustadt
- Gedenkblätter aus Yad Vashem, Israel
Zweite Verlegung
Am 4. und 5. Juli 2011 wurden weitere 33 „Stolpersteine“ verlegt. Im Anschluss an die durch Gunter Demnig persönlich realisierten Verlegungsarbeiten wurden an den beiden Verlegestellen Gröhrmühlgasse 31 und Baumkirchnerring 5 jeweils kurze Gedenkveranstaltungen abgehalten, an denen Vertreter des Arbeitskreises, Interessierte sowie Schüler, Eltern und Lehrer des BRG Gröhrmühlgasse teilnahmen. Die anwesenden Gäste wurden über die Spendenaktion zur Finanzierung der „Stolpersteine des BRG Gröhrmühlgasse“ informiert und Schülervertreter lasen Auszüge aus den Biografien der betreffenden Personen (Familie Buxbaum und Müller) vor. Abschließend legte man im Sinne des Gedenkens Blumen für die Opfer des Nationalsozialismus nieder.
21 Verlegestellen – 33 „Stolpersteine“:
Baumkirchnerring 5 | Lazar, Paul, Wolfgang, Ruth und Kurt MÜLLER | (jüdische Bürger) |
Baumkirchnerring 7 | Nathan, Ida und Irma RIEGLER | (jüdische Bürger) |
Brunner Straße 30 | Franz und Hanni Delfine SECKL | (jüdische Bürger) |
(Kaisersteingasse 7) | | |
Fischauergasse 100 | Maria WOLF | (Euthanasie-Opfer) |
Flugfeldgürtel 13/15 | Heinrich SAUER | (Widerstand) |
Flugfeldgürtel 13/15 | Eduard SCHALLER | (Widerstand) |
Flugfeldgürtel 17/15 | Franz KASTEINER | (Widerstand) |
Grazer Straße 95 | Juliane TAUL | (Euthanasie-Opfer) |
Gröhrmühlgasse 31 | Julius, Margarete, Max und Julie BUXBAUM | (jüdische Bürger) |
Haggenmüllergasse 13 | Max STÖSSEL | (jüdischer Bürger) |
Kaiserbrunngasse 17 | Wilhelm und Johanna SCHISCHA | (jüdische Bürger) |
Kaisersteingasse 13 | Johann HÖDL | (politisches Opfer) |
Kesslergasse 15 | Rudolf MÜLLER | (Euthanasie-Opfer) |
Kollonitschgasse 12 | Berta REININGER | (jüdische Bürgerin) |
Martinsgasse 8 | Heinrich GERSTL | (jüdischer Bürger) |
Neunkirchnerstraße 35 | Arnold, Margarethe und Eugen BEINHECKER | (jüdische Bürger) |
Pottendorfer Straße 121 | Julius PUSCHEK | (Widerstand) |
Purgleitnergasse 46 | Franz WINKELMANN | (Widerstand) |
Wassergasse 9 | Emma POPPINGER | (Euthanasie-Opfer) |
Wiener Straße 13 | Julius DUHL | (jüdischer Bürger) |
Zum „Stolperstein“ von Max Stössel ist anzumerken, dass er nicht als politisches Opfer zu bezeichnen ist. Er leistete keinen Widerstand, sondern wurde wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt.
Bereits zum ersten Verlegungstermin im Juli 2010 wurde Juliane Taul ein „Stolperstein“ gesetzt (weshalb damals in den Medien auch von 21 „Stolpersteinen“ die Rede war). Ihr Stein musste allerdings im Juli 2011 – aufgrund einer Beschädigung (durch einen Schneepflug) – neu gesetzt werden.
Insgesamt sind nun also 53 „Stolpersteine“ in Wiener Neustadt vorhanden (Stand Juli 2011).
Im November 2011 fand eine große Gedenkveranstaltung zum neuen Buch über die "Stolpersteine" in Wiener Neustadt. Ausführliche Informationen zu Projekt, Veranstaltung und Buch findet man auf:
Projekt:
Stelpersteine Wiener Neustadt
Gedenkveranstaltung & Buchpräsentation:
wn tv Gedenkveranstaltung
Buch:
http://www.vereinalltagverlag.at/de/bucher/get/117648/
Stand: Mai 2014