Zur Geschichte des jüdischen Friedhofs in Wiener Neustadt
Werner Sulzgruber
Die erste Dokumentation des jüdischen Friedhofs (mit allen historischen Entwicklungen,
grundlegenden Erklärungen, Plänen und Bildmaterial sowie biografischen Daten zu den
Bestatteten) findet sich in:
Sulzgruber, Werner: Das jüdische Wiener Neustadt. Geschichte und
Zeugnisse jüdischen Lebens vom 13. bis ins 20. Jahrhundert. Wien: Mandelbaum 2010.
Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
Nach dem Wiedererstehen der jüdischen Gemeinde in Wiener Neustadt in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Mitglieder vor allem wegen der Zuwanderung
aus Böhmen, Mähren und Ungarn kontinuierlich auf über 300 Personen an. Obgleich
die 1871 konstituierte Kultusgemeinde bald zu einer der größten Niederösterreichs
zählte, bestand bis in die späten 80er Jahre des 19. Jahrhunderts keine Möglichkeit,
die Verstorbenen vor Ort zu bestatten. Die Toten wurden traditionell in die Gemeinden
ihrer Väter, zum Beispiel nach Mattersdorf, gebracht und dort bestattet oder auf einem anderen Friedhof innerhalb
der österreichischen Reichshälfte, zum Beispiel in Baden, begraben.
Da die Überführung der Verstorbenen mit Problemen und Kosten verbunden war, fasste
die IKG die Errichtung eines eigenen Friedhofes ins Auge. 1888 versuchten der damalige
Kultusvorsteher Dr. Friedenthal und sein Stellvertreter Ignaz Schischa in einem
Schreiben an den Stadtrat die Notwendigkeit ihres Anliegens darzustellen und ersuchten
um die „entgeltliche Überlassung einer der Stadt gehörigen Parzelle in der Nähe
des städtischen Friedhofes“.
Nach einem ersten Antrag wurde allerdings auch ein zweites Ersuchen der IKG um die
käufliche Überlassung einer Parzelle seitens des Stadtrats im Juni 1888 abgelehnt,
und so beschloss die IKG, „von der Errichtung eines selbständigen Gottesackers bis
auf Weiteres gänzlich abzulassen“. Da jedoch der Bedarf an
einem eigenen Friedhof sehr dringlich war und aufgrund vermehrt notwendiger
Überführungen die Kosten weiter anstiegen, konnte das Ankaufsprojekt
nur kurzzeitig hintangestellt werden. Offensichtlich durch weitere Gespräche dazu
veranlasst, entschied der Stadtrat nach wenigen Monaten, am 19. Oktober 1888, der
IKG Wiener Neustadt zur Errichtung eines „israelitischen Friedhofes“ die Parzelle
2283 um den Betrag von 200 Gulden käuflich zu überlassen. Am 11. Dezember 1888 wurde
der Kaufvertrag zwischen der Stadtgemeinde und der Kultusgemeinde abgeschlossen.
Die Verantwortlichen der IKG Wiener Neustadt verloren nun keine Zeit, sodass 1889
nach der Vorlage des Bauplans rasch mit der Errichtung einzelner Gebäude begonnen
wurde. Die Parzelle, die an der Reichsstraße lag, war Ende des 19. Jahrhunderts
von Verkehrswegen eingeschlossen. Zuerst fasste man das Areal mit einer rund zwei
Meter hohen Einfriedungsmauer ein, deren Verlauf an die vorhandenen Wege und Straßen
angepasst wurde. Dann errichtete man im östlichen Zugangsbereich zwei Gebäude: ein
„Gärtnerhaus“ und ein „Leichenhaus“.
Lageplan des jüdischen Friedhofs 1889
Foto: StAWN, Alte Registratur 1891, Nr. 24.561-J-Ges
Noch vor der endgültigen Bewilligung des Begräbnisplans erfolgte das erste Begräbnis
am „neuen“ jüdischen Friedhof am 20. November 1889. Es handelte sich um Regine Rosenberger,
die Gattin des Uhrmachers Adolf Rosenberger.
1938 und Folgejahre
Bis 1938 wurden an diesem Ort über 280 Personen bestattet. Obgleich 1938 zahlreiche
jüdische Friedhöfe in Österreich geschändet, demoliert und zerstört wurden, blieb
der jüdische Friedhof in Wiener Neustadt nahezu unangetastet und wurde von den Nationalsozialisten
nicht zerstört. 1940 erwarb die Stadtgemeinde den Friedhof. Trotz der massiven Bombardierung
der Rüstungsstadt im Zweiten Weltkrieg blieb das Areal, das im Industriegebiet der
Stadtgemeinde lag, fast unbeschädigt.
Nach dem Krieg kam es zu keiner Neukonstituierung der IKG, wenige jüdische Einwohner
hatten überlebt und nur vereinzelt kehrten sie in die Stadt zurück. 1952 erfolgte
die Rückstellung des jüdischen Friedhofs.
Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Auf dem Friedhofsgelände wurden Bäume und Sträucher angepflanzt, zwei Baum-Alleen
angelegt und das Wegenetz hergestellt. Manche Grabstellen wurden von Überlebenden
der Shoa renoviert, indem beispielsweise Inschriften nachgezogen wurden und Zusatztafeln
bzw. Zusatzgrabsteine errichtet wurden.
Aufgrund der zunehmenden Größe der Bäume und der von ihnen ausgehenden Gefahr für die
Grabstellen mussten einige Bäume später gefällt werden. Ihr Wurzelwerk hatte Sockel
gehoben und Grabsteine zum Umsturz gebracht. Die unteren Äste von Bäumen, aber auch
Sträucher bewirkten bei Wind eine Instabilität von Grabsteinen.
Ende des 20. Jahrhunderts
In den späten 1980er Jahren entbrannte eine politische Diskussion über die Begräbnisstätte.
Der Zustand des Areals wurde als „bedenklich“ eingestuft. In den „Wiener Neustädter
Nachrichten“ hieß es damals zum Beispiel: „Leider sind heute viele der Grabsteine
umgestürzt, Steinfraß und Umweltverschmutzung tragen das Ihre dazu bei, die Inschriften
der Grabtafeln für immer verschwinden zu lassen. Manche der Grabsteine sind unter
Gestrüpp und hohem Unkraut überhaupt nicht mehr auszumachen.“ In den Zeitungen war
vom „vergessenen Friedhof“ und „total vernachlässigten Judenfriedhof“ die Rede.
Die Jahre 2006 und 2007
Die Stadtgemeinde Wiener Neustadt bemühte sich um eine Mindestpflege des Friedhofs,
indem in regelmäßigen Abständen die Wiesenfläche gemäht und Laub weggeführt wurde.
Doch Begehungen im Winter 2006 und im Frühjahr 2007 zeigten, dass Handlungsbedarf
bestand: Die gesamten Randzonen des Areals (konkret die Süd-, West- und Nordseite)
waren von massiven Verwüchsen und Wildwuchs gekennzeichnet. Größere Mengen Plastik,
Glasflaschen und anderer Müll befanden sich auf dem Gelände. Unter anderem wurden
(und werden) bedenkenlos und kontinuierlich Abfälle über die Mauer des Friedhofs
geworfen und die Fenster des Gärtnerhauses von Vandalen beschädigt. Die alte Einfriedungsmauer
zeigt an einigen Stellen massive Auflösungserscheinungen, ganze Befestigungselemente
fallen heraus. Zweifellos würden für eine umfassende Sanierung, die den Baumbestand,
die Grabstellen, alle Gebäude und die Einfriedung einschließen müsste, enorme Geldsummen benötigt werden, die von der Stadtgemeinde
allein nicht aufgebracht werden können.
Schlechter und ungepflegter Zustand im Frühjahr 2007
Fotos: Sammlung Sulzgruber
„Aktion Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof“ (AKJF Wiener Neustadt)
In Anbetracht der Sachlage und im Bestreben, eine Veränderung des Ist-Zustandes
herbeizuführen, wurde vom Wiener Neustädter Historiker Dr. Werner Sulzgruber die
„Aktion Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof“ (AKJF Wiener Neustadt) initiiert: Auf
Basis eines Schulprojektes sollten sich Schüler aktiv für dieses wichtige Kulturdenkmal
engagieren. Es galt vor allem eine Freimachung und Reinigung des Areals und der
Grabstellen durchzuführen.
Es hat in Österreich auch in der Vergangenheit immer wieder Schulprojekte
gegeben, wo Schüler auf Friedhöfen Efeu und Verwuchs zurückschneiden. In Wiener Neustadt
war ein solches Projekt bislang noch nie Thema gewesen. Für Wiener Neustadt hätte
eine symbolische, oberflächliche Behandlung allerdings nicht genügt, weshalb eine
nachhaltigere, intensive Vorgangsweise versucht werden musste, die jedoch nur mit
Unterstützung von Profis erfolgen konnte.
Weitere „Aktionstage“ sollen in Zusammenarbeit von Schulen der „Schulstadt“ Wiener
Neustadt in regelmäßigen Abständen realisiert werden. Die „Aktion Kulturdenkmal
Jüdischer Friedhof“ (AKJF Wiener Neustadt) mit ihrem Initiator Dr. Werner Sulzgruber
ist eine schulübergreifend aktive Interessensgruppe von Personen (Pädagogen, Historikern,
Schülern, anderen Freiwilligen), die gemeinsam mit Unterstützung des Wirtschaftshofs
der Stadtgemeinde (Gerätschaft, Fahrzeuge für den Abtransport) und Sponsoren (Versorgung
der Freiwilligen) für den jüdischen Friedhof agiert.
Lern- und Gedenkstätte
Seit 2010 gibt es die „Lern- und Gedenkstätte Jüdischer Friedhof Wiener Neustadt“,
nachdem der Ort genau dokumentiert, seine Geschichte und die Biografien der dort Bestatteten
aufgearbeitet wurden. Ergebnisse dieses wissenschaftlich fundierten Forschungsprojekts,
das nach Vorarbeiten (2007-2009) offiziell vom Juli 2009 bis August 2010 lief, sind
in der Publikation „Das jüdische Wiener Neustadt“ nachzulesen:
Sulzgruber, Werner:
Das jüdische Wiener Neustadt. Geschichte
und Zeugnisse jüdischen Lebens vom 13. bis ins 20. Jahrhundert. Wien: Mandelbaum
2010.
Weitere grundlegende Informationen findet man, neben der Website
www.juedische-gemeinde-wn.at, auch in folgenden Publikationen:
Sulzgruber, Werner:
Die jüdische Gemeinde
Wiener Neustadt. Von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerstörung. Wien: Mandelbaum 2005.
Sulzgruber, Werner:
Die
sterbende Stadt. Vom Leben in Wiener Neustadt 1933 bis 1938. Wirtschaftslage – Sozialpolitik
– Alltagsbilder. Wiener Neustadt: VAV 2006.
Ein wichtiger Schritt zur „Lern- und Gedenkstätte Jüdischer Friedhof Wiener Neustadt“
war auch der Konsens, der im März 2009 zwischen der Stadtgemeinde Wiener Neustadt,
der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und dem Bundesdenkmalamt gefunden wurde.
Hier wurden primär die folgenden drei Punkte vereinbart:
- eine erste Sanierung des
jüdischen Friedhofs,
- eine „sanfte Öffnung“
des Friedhofs und
- seine Etablierung als Lern-
und Gedenkstätte
Der jüdische Friedhof ist als Kulturdenkmal ein Ort, der Zeitgeschichte erfahrbar
macht und Erinnerung ermöglicht: Erinnerung an einen Teil der Stadtgeschichte, an
die Geschichte der jüdischen Gemeinde, an Namen und persönliche Schicksale von Juden
– an ihr Leben und ihren Tod. Der jüdische Friedhof ist ein Ort des Erinnerns, eine
Gedenkstätte, die jungen Menschen ein Lernen vor Ort ermöglicht. Ist er doch der
letzte sichtbare Rest einer einst blühenden und bedeutenden jüdischen Gemeinde in
Wiener Neustadt.
Ziele:
- Erhaltung des jüdischen
Friedhofs
- Begegnung mit der jüdischen
Geschichte der Stadt und der Region
- Erinnerung an die jüdische
Bevölkerung
- Vermittlung von kulturhistorischen
und zeitgeschichtlichen Themen
- Geschichte der jüdischen Gemeinde Wiener Neustadt
- Stadt- und Regionalgeschichte
- Nationalsozialismus & Holocaust
- Beitrag zum Kulturleben
der Stadt und Region Wiener Neustadt
- Synergien und Kooperationen
(mit Bildungseinrichtungen, anderen Gedenkorten und Museen und Experten)
Angebote:
- Stadtführungen durch das
jüdische Wiener Neustadt
- Führungen auf dem jüdischen
Friedhof
- Begleitprogramme für Schulklassen
- Präsentationen an Schulen
(Themenpool: Die jüdische Gemeinde Wiener Neustadt, Zwischenkriegszeit, wirtschaftliche
und soziale Situation, Aufstieg des Nationalsozialismus, 1938 und Folgen, Die „Reichskristallnacht“
in Wiener Neustadt etc.)
- Informations- und Lernmaterialien
- Beratung und Betreuung
bei Projekten zum Thema
Zielgruppen:
- Jugendliche (vor allem
SchülerInnen ab der 8. Schulstufe)
- Erwachsene
Initiator – Kontakt:
Mag. Dr. Werner Sulzgruber
Historiker und Initiator
werner_sulzgruber@hotmail.com
Überblick im Detail 2007-2011
Oktober 2005
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erstes Buch über die jüdische Gemeinde in Wiener Neustadt im zeitgeschichtlichen Kontext
erste umfassende Datenbank über die jüdische Bevölkerung der Stadt
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seit 2005
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Vorträge über die Geschichte der jüdischen Gemeinde im Rahmen der Buchwochen, im
Stadtarchiv, im Stadtmuseum Wiener Neustadt, in Schulen etc.
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November 2006
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Exkursion mit Lehrern auf dem jüdischen Friedhof
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März 2007
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Gründung der Initiative „Aktion Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof Wiener Neustadt“
(AKJF) durch Dr. Sulzgruber
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April 2007
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„1. Aktionstag“ (16. April 2007)
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Mai 2007
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Erstellung einer Planskizze, eines handgezeichneten Rohplans mit allen Grabstellen,
Gebäuden und dem Baumbestand (als Vorlage für die technische Vermessung)
Auffindung mittelalterlicher Grabsteine
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Juni 2007
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Friedhofsbegehung mit politisch Verantwortlichen der Stadtgemeinde erste Vermessung des Areals
durch die Magistratsabteilung 4 (DI Pfleger und sein Team)
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April 2008
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Erstellung eines Zustands-, Pflege- und Sanierungsberichts mit aktueller
Foto-Dokumentation
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seit September 2008
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Angebot von Führungen
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November 2008
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Beginn der Sanierung der mittelalterlichen Grabsteine
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Juli 2009
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Beginn des wissenschaftlichen Forschungsprojektes über den jüdischen Friedhof Wiener
Neustadt
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Oktober 2009
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„2. Aktionstag“ (22. Oktober 2009)
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November 2009
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Präsentation der Installation zu den mittelalterlichen Grabsteinen
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Februar 2010
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Verleihung der
Torberg-Medaille an Werner Sulzgruber
Vollendung der Vermessung des Areals durch die Magistratsabteilung (DI Pfleger und
sein Team)
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August 2010
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Fertigstellung der Publikation „Das jüdische Wiener Neustadt“ (mit den Forschungsergebnissen
zum jüdischen Friedhof)
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September 2010
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Ausstellungseröffnung im Stadtmuseum Wiener Neustadt zur Geschichte der jüdischen
Gemeinde Wiener Neustadt unter dem Titel „Schicksalswege“ mit Buchpräsentation
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November 2010
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Vortrag am 04.11. anlässlich der Wiener Neustädter Buchwochen „Persönlichkeiten
& Zeugnisse jüdischen Lebens“
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März 2011
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Vortrag am 18.03. im Stadtmuseum Wiener Neustadt
„Kein vergessener Ort? Die Geheimnisse des jüdischen Friedhofs in Wiener Neustadt“
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Mai 2011
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Gespräche zwischen der Stadtgemeinde Wiener Neustadt und der IKG Wien
über die Instandhaltung und Pflege des jüdischen Friedhofs
(nach AKJF-Vorgesprächen ab Jänner 2011)
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Juni 2011
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Absicherung und Absperrung von instabilen Grabsteinen (Vorsichtsmaßnahmen für Besucher)
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2011-2012
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Aufstellung, Stabilisierung und Sanierung von neuzeitlichen Grabsteinen (inkl. Sockel) durch Mag. Gurtner
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Jänner 2013
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Unterzeichnung der sogenannten "Friedhofsvereinbarung" durch die Stadtgemeinde Wiener Neustadt und die IKG Wien, womit eine Sanierung des unter Denkmalschutz stehenden Areals in Angriff genommen werden kann. |
September 2013
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Buchpräsentation "Lebenslinien. Jüdische Familien und ihre Schicksale. Eine biografische Reise in die Vergangenheit von Wiener Neustadt". |
September 2013
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Ausstellungseröffnung im Stadtmuseum Wiener Neustadt "Familienalbum".
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