Geschichte der jüdischen Gemeinde Wiener Neustadt

Werner Sulzgruber

Die jüdische Gemeinde von Wiener Neustadt zählte zu den bedeutendsten im Gebiet des heutigen Österreich und bestand spätestens Mitte des 13. Jahrhunderts. Die einstige Neustadt beherbergte neben Krems und nach Wien die älteste „Judengemeinde“ Österreichs. In ihrer Frühzeit bestand sie vermutlich aus nicht mehr als fünfzig Personen. Im 13. Jahrhundert erwuchs die jüdische Gemeinde der Neustadt neben den genannten zu einer Hauptgemeinde im Raum des heutigen Niederösterreich. Die ersten Gemeinden genossen Selbständigkeit in Verwaltung und Rechtssprechung. Wien, die Neustadt und Krems bildeten Zentren jüdischen Lebens in Niederösterreich.

Die erste Information über Juden in der Neustadt stammt aus dem Jahre 1239, als Herzog Friedrich II. den Bürgern (im sog. Großen Mautprivileg) unter anderem zusagte, Juden aus allen Ämtern auszuschließen, durch welche christliche Bürger „beschwert“ werden könnten. Im selben Jahr gutachteten der Wiener Rabbiner Isaak bar Mosche Or Sarua und der Neustädter Rabbiner Chaim bar Mosche über eine vermeintlich gefälschte Heiratsurkunde.

Privileg von 1239

Privileg von 1239


Foto: StAWN, Bildarchiv Ktn. 28 Inv.Nr. 51484

Die Gemeinde hatte seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Synagoge (Judenschulgasse, heute Allerheiligenplatz 1) und einen Friedhof, der sich außerhalb der Stadtmauern im Süden befand. Der älteste Fund eines jüdischen Grabsteins in Wiener Neustadt ist auf das Jahr 1252 datiert. Wiener Neustadt ist damit nach Wien die zweitälteste Gemeinde in Österreich. Es handelte sich um den Grabstein des am 21. Jänner 1252 verstorbenen Simcha, Sohn des Baruch. Ab etwa 1250 war Rabbi Mose Taku Rabbiner in der Neustadt, nach ihm Rabbi Chaim, Sohn des Wiener Rabbiners Isak.

Im 14. Jahrhundert beherbergte die Neustadt eine Talmudschule, geführt von Rabbi Schalom. Rabbi Schalom ben Isaak war zweifellos die zentrale Persönlichkeit des jüdischen Lebens vor der „Wiener Gesera“ (Wiener Verhängnis).

Die jüdische Bevölkerung lebte im Mittelalter im Spannungsfeld zwischen Formen der Privilegierung und des Schutzes (durch Kaiser bzw. Landesfürst) sowie Maßnahmen der Ausgrenzung und Diskriminierung. Die feindliche Haltung gegenüber Juden zeigt sich zum Beispiel in einem Fresko in der mittelalterlichen Pfarrkirche der Stadt (dem Liebfrauendom), das Ende des 13. Jahrhunderts entstand. Auf diesem finden sich Juden im „Weltgericht“, in die Hölle getrieben, abgebildet.

Wenngleich sich die Ausgrenzung von Juden, wie andernorts, im 14. Jahrhundert fortsetzte, so nahm die Neustadt hinsichtlich der Verfolgungen von Juden eine Sonderrolle ein: Denn die jüdische Gemeinde der Neustadt blieb nicht nur 1338 von den Verfolgungen in Niederösterreich, die von Pulkau ausgingen, verschont, sondern auch von den Pogromen in den Pestjahren 1348/49.

Dennoch blieb es auch hier nicht nur bei diversen Verboten, etwa jenem von 1316, als Juden die Ausübung des Schneiderhandwerkes untersagt wurde. Im Jahr 1347 steigerte sich der Hass bis zur Ermordung von Juden in der Neustadt. So wurden etwa Rabbi Simcha, Sohn des Rabbi Eljakim, als er seinem Glauben nicht abschwören wollte, und eine Jüdin ermordet. Da der Bürgermeister, der Stadtrat und der Stadtrichter die Rechte der Juden und des Judenrichters nicht anerkennen wollten, sollten sie einen „strefleuch brief“ des Herzogs erhalten.

Die Zerstörung der Wiener Gemeinde im Rahmen der so genannten „Wiener Gesera“ 1420/21 blieb ohne Auswirkung auf die Neustadt, weil die Stadt aufgrund der Neuberger Teilungsverträge von 1379 nicht zum Herzogtum Österreich, sondern zum Herzogtum Steier gehörte. Die Neustadt nahm infolge dieser rechtlichen Stellung und als nunmehr größte jüdische Gemeinde wieder eine Sonderrolle als „einziges geistiges jüdisches Zentrum im Gebiete des heutigen Österreich“ ein. Die jüdische Gemeinde blieb verschont, es kam zu keiner Vertreibung.

Nach einer Phase innerer Streitigkeiten übernahm vor 1450 Rabbi Israel bar Petachja, genannt Isserlein (1390-1460), aus Marburg die Position eines Rabbiners, nicht aber des Gemeinderabbiners. Er wurde zum Begründer einer berühmten Talmudschule, genoss höchstes Ansehen innerhalb des Kreises jüdischer Gelehrter und stellte zweifellos die rabbinische Autorität nach der Wiener Gesera schlechthin dar. Isserlein war als Gelehrter über die Grenzen des Landes hinaus bekannt, seine Entscheidungen in Rechts- und Glaubensfragen hatten Vorbildcharakter.

Kaiser Friedrich III. (König Friedrich IV.) wurde wegen seiner eher judenfreundlicheren Haltung als „Rex Judaeorum“ tituliert. Juden wurden von den Landesfürsten, die sich in ständiger Geldnot befanden, gefördert. Die jüdische Bevölkerung in der Neustadt erlebte unter Kaiser Friedrich III., der die Stadt 1440 als Residenz gewählt hatte, eine Blütezeit. Gleichwohl belegt der so genannte „Judenspott“, ein Steinrelief, das an der Hoffassade des Hauses am Hauptplatz 16 eingelassen war und ein Schwein zeigt, an dessen Zitzen jüdische Männer saugen, die bestehende und wachsende Ablehnung gegenüber Juden im 15. Jahrhundert.

Richten wir unseren Blick auf die jüdische Gemeinde und ihre örtliche Infrastruktur im 15. Jahrhundert: Das Judenviertel, das westlich des Stadtzentrums – anfangs im Minderbrüderviertel – lag, reichte ungefähr vom Hauptplatz und der Friedrichgasse im Osten bis zur Singergasse und der Reyergasse im Westen sowie von der Lange Gasse im Süden bis zur Herzog-Leopold-Straße (dann auch in Teilen zur Herrengasse) im Norden. In der Neustadt gab es mehr als nur eine Synagoge und eine Talmudschule. Die 1383 erstmals urkundlich erwähnte Synagoge stand am Allerheiligenplatz 1 (einst „Judenschulgasse“), ihr gegenüber das 1464 erstmals erwähnte jüdische Spital (Allerheiligenplatz 3 bzw. 4). Weiters gab es einen eigenen Gebetsraum für jüdische Frauen („Frauenschul“) und eine Fleischbank, die sich westlich des Spitals befand. Ein Bächlein, das im Bereich der Lederergasse floss, diente als Wasserversorgung für diese Fleischbank. Aus dem Jahr 1354 stammt die erste Erwähnung einer „Judenbadstube“. Auch in der Herrengasse 25 wird eine solche erwähnt, die aber von einem Christen geführt wurde und kein rituelles Tauchbad (Mikwa), sondern nur ein Reinigungsbad war. Eine weitere „Judenbadstube“ im Frauenviertel wurde 1492 erwähnt. Ein rituelles Tauchbad befand sich vermutlich gegenüber der Synagoge („Judentuckhaws“).

Zu betonen gilt es, dass Juden in der Neustadt „durch keine Trennungslinie von ihren christlichen Nachbarn abgesondert“ lebten, sondern die Grenzen unscharf gezogen waren. Dennoch wird angenommen, dass sich im Osten und Norden des Judenviertels eigene Zugänge bzw. Tore befanden, die in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, also noch vor der weiteren Expansion des Wohnviertels, installiert worden waren und auch versperrt werden konnten. Das Judenviertel wies die vergleichsweise höchste Bevölkerungsdichte in der Stadt auf. Nachdem es von der heutigen Herzog-Leopold-Straße (einst „Neue Judengasse“) in nördliche Richtung zur Herrengasse gewachsen war, erreichte es um das Jahr 1450/60/80 seine größte Ausdehnung. Ebenso ist ein eigener „Judenplatz“ nachweisbar, und zwar im Bereich des ehemaligen Gerichtshauses der Stadt, das sich etwa in der Mitte zwischen Lange Gasse und Haggenmüllergasse, einst „Judengasse“, befand.

Plan des Judenviertels

Plan des Judenviertels


Foto: Mayer, Band II [I/2. Teil] Tafel VII

Erklärungen zum Planauszug:

  • „Judenbad“ (94)
  • Tore zur „Judenstadt“ (121, 122, 123)
  • Synagoge (124)
  • „Judenspital“ (126)
  • Die Abbildung zeigt nicht die größte Ausdehnung des Judenviertels.
  • Die Verortungen – nach Mayer – sind heute teils umstritten bzw. unwahrscheinlich (z. B. im Fall Nr. 125).

Juden waren in der Neustadt im 15. Jahrhundert primär im Geldverleih und im Handel, insbesondere mit Getreide, Vieh, Wein, Stoffen, Öl und anderem, tätig. Nach dem Tod Kaiser Friedrichs III. im Jahre 1493 verlor die Neustadt den Charakter als Regierungsmittelpunkt. Bereits in den 1480er Jahren war der Hofstaat weggezogen und nun folgte der Adel Maximilian I. nach Innsbruck. 1494 zerstörte ein Großbrand „die gantz Stat mitsambt christn und judn“. Das Judenviertel war massiv betroffen, vor allem Synagoge und Spital (das nicht mehr aufgebaut wurde).

Das Verhältnis zwischen Juden und Christen verschlechterte sich in Folge der Zerstörung der Stadt, weil aufgrund von Darlehensgeschäften Schulden bei Juden ausstanden. Die Juden in der Neustadt hatten, aus der Sicht der Landstände, zu viele Rechte. Wirtschaftliche Interessen des verschuldeten Adels und machtpolitische Bestrebungen der Stände gegenüber dem Landesfürsten, die auf der Ebene der Bewilligung von außerordentlichen Steuern ausgetragen wurden, trugen das Ihre dazu bei, sodass schließlich Maximilian I. 1496 die Vertreibung der Juden aus der Neustadt befahl. Ihnen sollte eine Niederlassung „auf ewige Zeit“ verboten sein. Als Kompensation zur Judensteuer mussten die steirischen Stände Geld aufbringen und die Steuern für die Finanzierung des Krieges gegen die Osmanen bewilligen. Die Vertreibung verlief nicht in Form eines Pogroms, sondern es handelte sich um eine organisierte Ausweisung von Juden, in deren Zusammenhang sich die Verkäufe von Häusern und alle Veränderungen der bestehenden Besitzverhältnisse über mehrere Jahre hinzogen: Sämtliche Geldangelegenheiten und Streitigkeiten zwischen Juden und Christen mussten beigelegt sein. Ihr bewegliches Hab und Gut durfte mitgenommen werden. Ihnen wurde eine Frist bis zum Heiligendreikönigstag 1497 gesetzt, diese wurde letztlich auf den 23. April 1498 verlängert, sodass die Juden mit ihren „weibern und kindern in der kelten nicht auf dem velde beleiben und verderben“. Den jüdischen Bürgern war vorgeschrieben worden, die Stadt zu verlassen und nach Marchegg oder Eisenstadt zu ziehen. Die letzten Hausverkäufe und Schuldzahlungen erfolgten erst 1500 (letzte Gewereintragung) oder später (1504 – letzter Hausverkauf; 1510 – Forderungen von Juden vor dem fürstlichen Kammergericht zu Wiener Neustadt). Die an den Landesfürsten gefallene Synagoge schenkte Maximilian I. der Stadt. Diese wurde in eine Kirche umgewandelt und bereits 1497 eingeweiht. Der Judenfriedhof, welcher südlich der Stadtmauern lag, blieb vorerst unbenützt, bis auf seiner Fläche Mitte des 16. Jahrhunderts die „Kapuzinerbastei“ errichtet wurde. Bis zum 19. Jahrhundert sollte sich in Wiener Neustadt keine neue Gemeinde mehr etablieren.

(Stand Mai 2011, aktualisierte und veränderte Fassung eines Artikels, der vom Autor für die Kulturzeitschrift DAVID 68, April 2006, verfasst wurde: david.juden.at/kulturzeitschrift/66-70/68-sulzgruber.htm)



Video 2, Ausstellung „Schicksalswege“



Video 3, Buch „Lebenslinien“ und austellung „Familienalbum“